Ganz große Klasse: Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gegen Ende ihrer ebenso langen wie sehr beeindruckenden Amtszeit als deutsche Bundeskanzlerin doch noch zu einer gleichermaßen überzeugten wie überzeugenden Europäerin. Um damit Eingang in die Geschichtsbücher zu finden, muss sie allerdings erst noch (mindestens) sieben ganz besonders „harte Nüsse“ knacken: Brexit, „Wiederaufstieg“ nach Corona, „Aufholjagd“ bei der Digitalisierung, Voranbringen des „Green Deal“, Stärkung der Demokratie in manchen Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder auch Polen und auch sehr wichtig: Aufbau einer „mächtigen" EU, die auf „Augenhöhe“ mit China, USA und Russland von diesen ernst genommen wird - und aktuell kam mit den Ereignissen im griechischen Flüchtlingslager Moria noch eine siebte "harte Nuss" hinzu.
Angela Merkel hat zu Beginn ihrer Ratspräsidentschaft die Europäer zu einem mutigen Reformkurs aufgerufen.
Gleichzeitig machte sie klar, dass Unterstützungsleistungen und Hilfsgelder ins Leere liefen, wenn sie nicht mit Reformen verbunden und auf die Zukunft ausgerichtet würden. In zwei Sätzen fasste sie zusammen, worum es geht: „Die Welt schläft nicht. Und nach dieser Krise werden mit Sicherheit die Karten neu gemischt“, warnte Merkel.
Der Reihe nach zu den sieben zu knackenden „harten Nüssen“; zuerst zu Corona, denn Europa geeint durch die Krise zu bringen, wird eine ganz zentrale Herausforderung für die deutsche Ratspräsidentschaft sein, weshalb das Corona-Wiederaufbauprogramm laut Merkel „so rasch wie möglich“ zu beschließen sei, um die wirtschaftliche Erholung nicht nur einzuleiten, sondern diese massiv zu befördern.
Am 8. Juli hat die EU-Ratspräsidentin Angela Merkel im Europäischen Parlament gleich zu Beginn ihrer Rede deutlich gemacht, wie groß diese Herausforderung ist: „Uns allen ist bewusst, dass mein heutiger Besuch vor dem Hintergrund der größten Bewährungsprobe in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet“. Entsprechend „groß“ fallen die von Merkel selbst und dem französischen Staatspräsidenten Emanuel Macron – 500 Milliarden Euro – und die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – 250 Milliarden Euro – aufgelegten Hilfs-, Rettungs- oder auch Zukunftsfonds genannten Finanzpakete aus, mit denen die Corona-Krise überwunden und die Zukunft der EU finanziert werden sollen. Klar gab es ein paar Widerstände – erinnert sei hier an die „sparsamen Vier“ - aber letztlich einigte man sich doch; schließlich konnte man auch hier wieder manches „mit genügend Geld zudecken“ bzw. Skeptiker mit „ein paar Milliarden“ zur Zustimmung „bewegen“.
Richtig und wichtig bei diesem gigantischen „Geldregen“: Sowohl der Green Deal mit der Festschreibung der Klimaneutralität bis 2050 zur Finanzierung der Klima- und Energiewende, als auch der gewaltige Rückstand Europas bei der Digitalisierung sollen hierbei jeweils "großzügigst" berücksichtigt werden. Die Europäische Union soll „klimaneutral“ und somit für die ganze restliche Welt zum Vorbild werden. Und bei Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, KI, werden europäische Forschungsinstitute entweder massiv unterstützt oder aber neue errichtet, um zunächst den internationalen Anschluss nicht zu verpassen und dann sogar an die Spitze zu gelangen. Wir müssen uns in der EU bewusst sein, dass grüne und digitale Technologien die Wachstumsmärkte der kommenden Jahrzehnte sind, weshalb hier ein Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft sichtbar werden muss.
Weniger gut, dass die ursprüngliche Absicht, die Vergabe von EU-Milliarden an die Einhaltung von zentralen Werten der Europäischen Union in den Empfängerländern – Sicherung der Prinzipien des Rechtsstaats, unbedingte Gewährung von Meinungs- sowie Pressefreiheit und Aufrechterhaltung der Demokratie – zu koppeln, nach Einsprüchen von Ungarn und Polen aufgeweicht worden ist.
Umso wichtiger war es deshalb, dass Angela Merkel nach Meinung von Beobachtern die Anwesenden im EU-Parlament gerade in diesem Zusammenhang mit einer sehr klaren Positionierung überraschte: Ein Thema nämlich zog sich Tobias Kaiser zufolge wie ein roter Faden durch ihre Rede - ein Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und europäische Werte. „Eine Demokratie, in der oppositionelle Stimmen unerwünscht sind, eine Demokratie, in der soziale, kulturelle und religiöse Vielfalt unerwünscht ist, ist keine“, sagte Merkel.
Wenn die EU nicht nur als wirtschaftlicher „Kraftprotz“ – Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnt eine „Wirtschaftsunion mit gemeinsamer Wirtschaftspolitik“ an - wahrgenommen werden will, sondern auch als eine Macht, die sich selbst zu verteidigen in der Lage ist, dann muss sie sich auf den Weg machen zu einer EVG, einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Spätestens seit US-Präsident Donald Trump die NATO und dabei vor allem deren Bündnisverpflichtung zur Verteidigung eines jeden von außen angegriffenen NATO-Mitglieds infrage gestellt bzw. nicht mehr zu 100 Prozent garantiert hat, muss man sich an Angela Merkels Satz aus dem Jahr 2018 erinnern, als sie sagte, dass die Zeit vorbei sei, in der man sich auf alle Partner verlassen konnte – und die Konsequenzen daraus ziehen: sich selbst so aufstellen, dass „man sich wehren“ bzw. im Falle eines Falles verteidigen kann. Anders wird die EU nie „auf Augenhöhe“ mit China, USA und vor allem Putins Russland kommen.
Als die „sechste Nuss" ist der Brexit zu nennen. Schmerzlich vor allem für Deutschland, dass sich damit ein wertvoller und wichtiger Verbündeter bei allen Fragen einer liberalen Wirtschaftsordnung „davon gemacht“ hat. Ziel sollte sein, bis Jahresende zu einem Vertrag mit Boris Johnson zu kommen, der „Handel und Wandel“ zum beiderseitigen Vorteil auch weiterhin ermöglicht; aber eben ohne einseitige Vorteile für „die von der Insel“.
Aktuell kam nun fünf Jahre nach Merkels längst in die Geschichtsbücher eingegangenen Satz im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise - "Wir schaffen das!" - das Drama von Moria hinzu. 13 000 Menschen wurden durch ein gelegtes Feuer obdachlos. Den Werten der Europäischen Union folgend verlangt man nach sofortiger Hilfe, nach konkreten humanitären Hilfsmaßnahmen. Die Bundesrepublik wird ca. 400 Familien aufnehmen; mehrere Kommunen haben sich zur Aufnahme bereit erklärt. Deutschland handelt. Wieder im Alleingang. Werden wir alleine gelassen oder schafft es die deutsche Ratspräsidentin gemeinsam mit der deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, endlich zu einer europäischen Asylpolitik zu kommen, nach der alle EU-Mitglieder sich in der Pflicht nehmen lassen, die Flüchtlings- und Asyolpolitik zu einer gemeinsamen Aufgabe zu machen; die siebte und damit sicher schwierigste Aufgabe; Zuversicht und Optimismus sind gefordert, noch mehr aber auch konsequentes Handeln der Ratspräsidentin!
Da Angela Merkel auf der Zielgeraden ihres aktiven politischen „Dauerlaufs“ nun doch auch die Geschichtsbücher und ihr Bild, ihre Würdigung und ihre Bewertung in diesen im Auge hat, darf man zuversichtlich davon ausgehen, dass sie alles tun wird, um diese genannten „sieben harten Nüsse“ zu knacken und damit eine für die Zukunft der EU positive Perspektive in ihrer Ratspräsidentschaft zu schaffen – gemäß der selbst gewählten Zielrichtung: „Next Generation EU“.
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