Mit Joe Biden sind die Vereinigten Staaten von Amerika nach der „Unterbrechung“ durch Donald Trump „eindrucksvoll auf der Weltbühne zurückgekehrt“, so die Beobachtung des früheren langjährigen Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Washington sowie London und anschließend Gründer und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, der die Frage nachschiebt: „Und wo ist Europa?“
Noch deutlicher wurde nahezu gleichzeitig dieser Tage der „große Altmeister der internationalen Politik“, Henry Kissinger, der schlicht feststellte: „Es gibt keine europäische Vision!“
Eindringliche Weckrufe!
Aber werden sie auch erhört? Zweifel sind (leider) angebracht. Dabei wäre es doch dringend notwendig, dass sie erhört werden!
Wolfgang Ischinger nennt als Beispiele für die „erfolgreiche Rückkehr“ der USA das „Ja“ von Joe Biden zum Pariser Klimaschutzabkommen, die Wiederaufnahme der Iran-Verhandlungen, die wieder multilaterale Handelspolitik der USA und die Tatsache, dass der neue Präsident anders als sein Vorgänger die US-Truppen aus Deutschland nicht nur nicht abzieht, sondern sie sogar – zwar geringfügig, aber immerhin - aufstockt.
Biden wartet gar nicht so sehr auf Gegenleistungen als vielmehr überhaupt einmal auf Antworten. Aber weder Deutschland noch die EU reagieren substantiell; sie freuen sich halt über den Wechsel im Weißen Haus und tun sonst – fast nichts!
Nichts mit Blick auf die Lastenteilung in der NATO, nichts hinsichtlich der Gaspipeline Nord Stream 2, nichts, um zu einer abgestimmten China-Politik zu kommen, nichts, um mit einer Stimme als EU in der Welt aufzutreten.
Auch aktuell im Hinblick auf die dramatische Entwicklung in Afghanistan wäre eine einheitliche europäische Politik unbedingt notwendig. Aber auch hier gilt bedauerlicherweise: von einem einheitlichen Vorgehen ist weit und breit nichts zu sehen.
Der Reihe nach: Schon die US-Präsidenten George Bush, Barack Obama, Donald Trump und jetzt natürlich auch Joe Biden forderten und fordern seit mittlerweile Jahrzehnten einen höheren Beitrag der Europäer, vor allem Deutschlands, zur Finanzierung der NATO. Hier aber verlässt man sich wie schon seit 70 Jahren gutgläubig – oder „naiv“? - darauf, dass der Schutz durch die USA ohne weitere eigene finanzielle erhöhte Beteiligung weiterhin „ad infinitum“ unvermindert bestehen bleiben wird.
Bereits Obama hatte jedoch deutlich gemacht, dass sich sein Land zunehmend dem pazifischen Raum zuwenden wird und Europa mehr für seine eigene Sicherheit tun muss; weitgehend ohne jede Reaktion diesseits des Atlantiks.
Ischinger und auch der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel schlagen vor, nicht mehr von „Lastenteilung“, sondern von „Lastenübernahme“ zu sprechen: „Wir kümmern uns um Europa und seine Nachbarschaft. Die USA können dann ihre Ressourcen an anderer Stelle einsetzen; Stichwort China und Pazifik“
Das wäre nicht nur fair und gerecht, sondern würde Biden auch in den USA mit Blickrichtung auf die nächsten Präsidentschafts-Wahlen in den Vereinigten Staaten helfen, wo Trump mit einer erneuten Kandidatur liebäugelt. Und wenn wir ihn nicht mehr „bekommen“, dann ist Europa, wiederum vor allem Deutschland, gleich „doppelt geholfen“.
Wolfgang Ischinger sieht nicht alleine im Bereich der militärisch ausgerichteten Sicherheitspolitik dringenden Handlungsbedarf, sondern diesen „noch viel dringlicher in der Chinapolitik. Hier muss die EU mit einer Stimme sprechen. Die Chinesen genießen die Sonderbeziehung mit Deutschland. Unsere kleineren Partner aber ärgern sich, wenn die Kanzlerin mit ihrem halben Kabinett jedes Jahr nach China reist und wiederum große chinesische Delegationen in Berlin aufkreuzen. Diese wirtschaftlichen Beziehungen sind lange gewachsen, aber auch hier müssen wir sie neu in die EU einbetten, damit es zu einer Chinapolitik aus einem Guss kommt. Nur im Rahmen der EU werden wir eine Chance haben, unsere Interessen zum Zug kommen zu lassen“.
Von einer offenen und auf beiderseitigen Vorteil ausgerichteten fairen Politik der EU gegenüber China können und würden beide Seiten nur Vorteile haben.
Grundvoraussetzung für ein gemeinsames, abgestimmtes und verlässliches Vorgehen der Europäischen Union in diesen zentralen Fragen wäre eine politische Identität, die es aber Kissingers Meinung nach nicht gibt: „Die EU hat es noch nicht geschafft, eine politische Identität und ein politisches Bewusstsein als organische Einheit zu schaffen. Die Entscheidungen werden durch die Abwägung politischer Präferenzen in einer im Wesentlichen administrativen Art und Weise von Fall zu Fall getroffen. Es gibt also keine Vision, die man als eine spezifisch oder einzigartig europäische Vision bezeichnen könnte“.
Kissinger macht dies am Beispiel Chinas deutlich: Deutschland profitiert von den glänzenden Handelsbeziehungen, die es mit China unterhält. Polen und Ungarn hoffen auf nicht klar definierte Vorteile von einer irgendwie gearteten Kooperation mit Peking. Litauen lehnt Geschäfte mit China ab, Griechenland verkauft seine Häfen an China – und was heißt das für die EU: Flickenteppich, das Verfolgen von Einzelinteressen; Kooperation hier, Abschottung dort; eine gemeinsame Vision gegenüber China? Glatte Fehlanzeige! Klar muss die EU offen sein und bleiben für eine Politik der Koexistenz; aber eben nicht „zersplittert“, sondern gemeinsam, als Union!
Überall Nachholbedarf.
Wie riesengroß dieser Nachholbedarf ist, das hat das Drama in Afghanistan erneut in aller Klarheit offengelegt: Technologisch, militärisch, logistisch sind die Europäer auf Gedeih und Verderb auf die Amerikaner angewiesen, wie Jens Münchrath messerscharf feststellte: „Nicht einmal die eigenen Mitarbeiter aus der deutschen Botschaft konnte die Bundesregierung selbständig evakuieren – sie musste die US-Regierung um Hilfe bitten“.
Wie geradezu peinlich uneins sich die EU geriert, das zeigt sich selbst da, wo es schlicht um humanitäre Hilfe geht; konkret jetzt bei der Aufnahme von Afghanen, die dem Westen als Partner/innen zur Verfügung standen und jetzt um ihr Leben fürchten müssen. Auch hier: keine einheitliche Linie, nirgends.
Amerika ist zurück, China schickt sich an, Weltmacht Nummer 1 zu werden, Putin zeigt die Muskeln, Indien wird immer stärker, in Südamerika schlummert aufwachendes Potential – und Ex-Außenminister Sigmar Gabriel fasst kurz und bündig zusammen, worum es (auch) geht: „Die Verschiebung der zentralen Handels- und Wirtschaftsachsen vom Atlantik und Europa in den Indo-Pazifik und nach Asien. Dort lebt die Mehrzahl der Menschheit, dort wird der größte Teil des Weltsozialprodukts erarbeitet, dort gibt es inzwischen fünf Atommächte“.
Und wo ist, was macht Europa? Die EU hat (noch) alle Chancen, mittelfristig neben China und den USA Weltmacht Nummer 3 zu werden; aber viel Zeit und viele Chancen hat es nicht mehr, um Ischinger und Kissinger und auch Gabriel zu zeigen: Auch Europa ist zurück! Nicht als „Selbstzweck“, sondern, um unsere Sicherheit in die eigenen Hände zu nehmen, hier Arbeitsplätze und damit Wohlstand auch für die nächsten Generationen zu erhalten.
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